Kann deutsche Literatur in Zeiten der Globalisierung die Menschen zur Änderung ihrer Verhaltensweisen bewegen? Diese Frage stand beim 14. Steinfelder Abend im Hermann Josef Kolleg (HJK) im Mittelpunkt. Als Referentin des Abends hatte der Organisator und HJK-Lehrer a.D. Werner Löhnertz die ehemalige Schülerin und jetzt in Berlin wirkende Literaturwissenschaftlerin Dr. Marita Meyer gewinnen können. Dass diesmal bei der beliebten Veranstaltungsreihe auch Stühle leer blieben, führte er auf die aktuelle Grippewelle zurück.
Dr. Marita Meyer machte 1982 am Hermann-Josef-Kolleg ihr Abitur und studierte danach Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte. In Heidelberg promovierte sie über den Schriftsteller Peter Weiss und die Darstellbarkeit des Holocaust. Sie arbeitete als Lektorin an der Yale University in den USA und als DAAD-Lektorin an der Uniwersytet Szczecinski in Polen. Zurzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität (FU) in Berlin. Werner Löhnertz konnte sich noch gut an Marita Meyer erinnern: “Es gibt Schüler, die einem präsent geblieben sind. Marita hat mir immer widersprochen.” Dr. Marita Meyer thematisierte in Steinfeld aktuelle deutschsprachige Literatur zu den Themen Globalisierung, Natur und Zukunft. Die Literaturwissenschaft, so Dr. Marita Meyer, habe sich nur zögerlich an das Thema herangewagt, obwohl sich bereits seit den 1980er Jahren Schriftsteller mit den Themenfeldern rund um die Globalisierung beschäftigten. Mit dem Buch “Globalisierung — Natur — Zukunft erzählen”, das die in Kall-Rüth aufgewachsene Ex-Schülerin selbst mit herausgegeben hat, präsentierte sie aktuelle Ergebnisse zum Thema.
Als Leiterin des Masterstudiengangs „Deutsch als Fremdsprache: Kulturvermittlung“ am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der FU Berlin hat Dr. Meyer mit den Kollegen Almut Hille und Sabine Jambon Texte, Lieder und Filme von 18 Autoren analysiert, die sich unter anderem mit dem Klimawandel, der Verschmutzung der Meere oder den weltweiten Warentransporten auseinander gesetzt haben. “Das Buch ist erst gestern aus der Druckerei gekommen”, berichtete Dr. Meyer.
Zunächst stellte Dr. Meyer ihren eigenen Forschungsbeitrag über den Gegenwartsdramatiker Roland Schimmelpfennig und sein Werk “Der goldene Drachen” vor. Im Mittelpunkt der Geschichte steht das China-Vietman-Thai-Schnellrestaurant “Der goldene Drache”, in dem ein junger Chinese ohne Aufenthaltsgenehmigung in der kleinen Küche illegal zwischen zischenden Gaskochern arbeitet. Ihm wird in der Küche ein furchtbar schmerzender Zahn mit der Rohrzange gezogen. Die OP endet tödlich für den jungen Chinesen, der eigentlich auf der Suche nach seiner Schwester gewesen war. Schimmelpfennig erzählt in dem epischen Stück von der Rechtslosigkeit illegaler Einwanderer, die nicht zum Arzt gehen können, wenn sie krank sind, oder nicht zur Polizei, wenn sie zur Prostitution gezwungen werden. Rund 100.000 illegale Einwanderer, so Dr. Marita Meyer, seien in Deutschland von dieser Problematik betroffen und würden missbraucht, ausgebeutet oder wie Sklaven gehalten.
Dass alte Geschichten in ihrer Aktualität wieder lebendig werden, erläuterte Marita Meyer an der Art und Weise wie Schimmelpfennig die Fabel “Die Ameise und die Grille”, in seinem Theaterstück variiert. Die bekannte Moral “Spare in der Zeit, so hast du in der Not” verschärft Schimmelpfennig dabei zur provokanten Aussage “Wer nicht arbeitet, braucht auch nicht zu leben”.
Abschließend stellte sie weitere aktuelle Autoren vor, die man ihrer Meinung nach sowohl Schülern als auch Lehrenden näher bringen solle. Die Literatur zeige auf, so Dr. Meyer, dass die Globalisierung den einen Vorteile, den anderen aber Gefahren, Diskriminierung und Sklaverei beschere. Der Theaterzuschauer oder der Leser sollen zum Nachdenken bewegt und motiviert werden, die Welt zu verändern.
In der folgenden Diskussion sprach HJK-Schulleiter Heinrich Latz angesichts der deutschen Literatur und des deutschen Theaters von sehr schwerer Kost. Die englische und amerikanische Literatur sei zugänglicher und nicht so “verkopft” wie die deutsche. Auch Werner Löhnertz zeigte sich skeptisch, ob die Literatur wirklich zur Änderung der Verhaltensweisen führen kann, wie es die Schriftsteller erwarten. Dr. Marita Meyer widersprach: Die Literatur könne dazu dienen, die Leute zu sensibilisieren und sie dazu zu animieren, neue Handlungsspielräume zu entdecken. Um Worten Taten folgen zu lassen, brauche man jedoch Verstand, Entschlusskraft und Mitgefühl mit anderen Menschen. “Uns wird der Anstieg des Meeresspiegel nicht treffen”, so die ehemalige Schülerin abschließend.
Bilder und Bericht: Reiner Züll/pp/Agentur ProfiPress